„Ja hämmer gsait!“
Als die Bürgerinnen und Bürger am Kaiserstuhl im Februar 1974 unter dem Motto „NAI HÄMMER GSAIT!“ den Bauplatz des in Wyhl am Rhein geplanten Atomkraftwerks besetzten, konnte niemand ahnen, dass sie damit einen Prozess in Gang setzen, der zum Umdenken in Sachen Atomkraft führte und etliche Jahre später schließlich unter dem Namen Energiewende offizielle Regierungspolitik wurde. Erstmals wurde damit die Energiepolitik der Bundesregierung, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges die Entwicklung des Stromsektors auf den Ausbau der Atomkraft gebaut hatte, in Frage gestellt und der Ausbau der Atomenergie von vielen Bürgerinnen und Bürgern als zu risikoreich abgelehnt.
Die Kritik am Ausbau der Atomenergie ab Mitte der 1970er Jahre wurde jedoch nicht nur auf den Straßen und den geplanten Bauplätzen artikuliert, sondern parallel auch durch Eingaben und bei Anhörungen im Rahmen der Planungsverfahren für Atomkraftwerke. Schnell wurde dabei deutlich, dass unabhängiges, atomkritisches wissenschaftliches Know-how entwickelt werden musste, um der Definitionsmacht der vorherrschenden Atomwissenschaft Paroli bieten zu können. Um diese Lücke zu schließen, wurde schließlich im November 1977 das Öko-Institut in Freiburg als erste wissenschaftliche Institution jenseits der etabliert Energieforschungseinrichtungen gegründet.
In den ersten Jahren nach der Gründung des Öko-Instituts lag der Fokus der wissenschaftlichen Arbeiten vor allem auf Themen zur Sicherheit von Atomkraftwerken und zur Entsorgung des nuklearen Abfalls, da dieses Know-how direkt in die laufenden Planungsverfahren an den Kraftwerksstandorten eingebracht werden konnte. Schnell wurde jedoch auch erkennbar, dass Eingaben und Anhörungen den Planungsprozess und damit auch den Ausbau der Atomenergienutzung in Deutschland zwar erheblich verzögern, aber nicht wirklich aufhalten konnten. Neben der Kritik an der vorherrschenden energiepolitischen Entwicklungsstrategie mussten also Alternativen zur vorherrschenden Strategie aufgezeigt werden.
Schon im Jahr 1980 wurde deshalb mit dem Buch „Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ ein Konzept vorgelegt, das die energie- und klimapolitische Debatte über mehr als drei Dekaden prägen und dessen Titel schließlich sogar zum Oberbegriff der deutschen Energiepolitik werden sollte. Das Grundkonzept der Energiewende beruht letztlich auf zwei Überlegungen: einerseits der Erkenntnis, dass der bisherige Pfad von Energiepolitik dringend einer grundsätzlichen Veränderung bedarf, und andererseits der Einschätzung, dass ein strukturell anders ausgerichtetes Energiesystem mit den aktuell verfügbaren oder zumindest absehbaren technischen Optionen ein gleiches Niveau von Wachstum und Wohlstand ermöglichen kann, sich aber auch als funktionsfähiger, preiswerter und gesellschaftlich besser eingebettet erweisen wird. Im Originaltext von 1980: „Die These dieses Buches ist, dass eine grundsätzliche und radikale Wende in der Energiepolitik der Bundesrepublik (und der Industriestaaten im allgemeinen) unabdingbar geworden ist. Wir möchten eine neue Strategie zur zukünftigen Energieversorgung vorstellen, die uns nach sorgfältiger Prüfung technisch machbar und wirtschaftlich und (gesellschafts-)politisch vorteilhaft erscheint und den sich anbahnenden Schiffbruch des bisherigen Kurses zu vermeiden verspricht.“
Seine besondere Dynamik entwickelte dieses Konzept der Energiewende nicht wegen der sich schnell verschärfenden energiepolitischen Herausforderungen, sondern vor allem aus dem enormen Optimismus bezüglich der technologischen Möglichkeiten und der Potenziale neuer, vor allem verbrauchsorientierter, dezentraler Technologien und Strukturen. Die Kritik des damaligen Mainstream der Energiepolitik und ‑wissenschaft an diesem radikalen Außenseiterkonzept richtete sich zunächst weniger auf die Problembefunde, sondern vor allem auf die Tragfähigkeit des technologischen Grundoptimismus.
Dieser Grundoptimismus blieb auch bei Anpassungen des Energiewendekonzeptes aufgrund sich verändernder energie- und vor allem klimapolitischer Herausforderungen als prägendes Merkmal der Studien erhalten. Während in der ersten Energiewendestudie neben Energieeffizienz und erneuerbaren Energien auch die einheimische Kohle noch eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielte, wurde diese Option vor dem Hintergrund der klimapolitischen Herausforderungen ab den 1990er Jahren fundamental anderes bewertet. Sukzessive wurden technologische Maßnahmen und politische Instrument in Aktualisierungen des Energiewendekonzeptes integriert, die langfristig eine vollständige Dekarbonisierung der Energiewirtschaft bzw. der gesamten Ökonomie ermöglichen.
Rückblickend kann man konstatieren, dass die unabhängigen Umweltinstitute, die seit Ende der 1970er Jahre gegründet wurden, von der etablierten Energiewissenschaft zunächst nicht ernst genommen wurden, deren Analysen und Empfehlungen aber gleichwohl hart bekämpft wurden. Ausgehend vom technologischen Grundoptimismus in Verbindung mit einer Kreativität bei der Ausgestaltung politischer Instrumente sowie einer Sensibilität für das gesellschaftspolitisch Machbare gelang es den unabhängigen Instituten im Laufe der vielfältigen Auseinandersetzungen, wissenschaftliche Reputation zu erwerben und wirkmächtigen Einfluss auf die Energie- und Klimapolitik in Deutschland auszuüben.
Das ist umso erstaunlicher wenn man berücksichtigt, dass die Forschungsförderung für Energieeffizienz und für erneuerbaren Energien im Vergleich zu den Aufwendungen für Atomforschung und fossile Energietechnologien zunächst verschwindend gering war. 1975 lag der Anteil der Forschungsaufwendungen für erneuerbare Energien an den gesamten Aufwendungen für Energieforschung bei nur sechs Prozent und stieg seitdem nur sehr langsam an. Erst ab der Jahrtausendwende überstieg der Anteil der Aufwendungen für Energiewendetechnologie die Aufwendungen für Atomforschung und fossile Technologien. Akkumuliert betrachtet wurden von 1975 bis 2015 zwei Drittel der Ausgaben für Energieforschung in Atom- und fossile Energietechnologien investiert und nur ein Drittel der Aufwendungen für Energieeffizienz und erneuerbare Energien verwendet. Auch heute werden noch fast 30 Prozent der Energieforschung in Atomforschung und fossile Energieträger investiert und das wird sich wohl so schnell auch nicht deutlich ändern lassen, da weiterhin viele Fragen zum Rückbau von Atomkraftwerken und zur Endlagerung wissenschaftlich untersucht werden müssen.
Trotz, oder vielleicht auch wegen ungünstiger Ausgangsbedingungen und mangelnder Unterstützung durch die etablierte Energiepolitik und ‑wissenschaft ist es den unabhängigen Umweltforschungsinstituten in Verbindung mit vielen anderen Akteuren gelungen, die politische Arena für die offizielle Energiewende im Jahr 2011 vorzubereiten. Die Anstrengungen hierfür haben in den 80er Jahren begonnen und müssen für die vollständige Umsetzung sicherlich auch noch bis zum Jahr 2050 fortgesetzt werden. Dabei ist es wichtig, dass die Energiewende weiterhin als dynamisches Konzept fortgeführt wird, bei dem von Unternehmen und Politik unabhängige Forschungsinstitute optimistische Visionen und machbare Strategien für die Vollendung der Energiewende bzw. genauer die vollständige Dekarbonisierung unserer Gesellschaften entwickeln können.
Eine umfassendere Version dieses Beitrags finden Sie auch auf oeko.de.
Dr. Martin Cames leitet den Bereich Energie & Klimaschutz am Standort Berlin.