„Ich bin mir sicher, dass die Energiewende langfristig nur als europäisches Projekt funktionieren wird“
Als Jugendlicher, zu Hause in Ostfriesland, konnte ich beobachten, wie die erneuerbaren Energien ihren Kinderschuhen entwuchsen. 1998 baute mein Vater seine erste Photovoltaik-Anlage auf unser Haus, 1997 wurde der erste Windpark in unserer Gemeinde errichtet. Die Entwicklung seitdem ist enorm, technologisch und auf der Kostenseite.
Heute wohne ich mit meiner Familie in Berlin. Mit Kind und als überzeugter Radfahrer ohne eigenes Auto beschäftigen mich privat die Themen Verkehr und Wohnen. Da wünsche ich mir eine neue Verteilung des öffentlichen Straßenraums, weniger Platz für Autos, mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer, ein niedrigeres Unfallrisiko und eine bessere Luftqualität. Solche Konzepte wie der von Anfang an ökologisch entwickelte, autofreie Stadtteil Vauban in Freiburg – so etwas bräuchten wir auch in Berlin und in anderen Städten.
Beruflich beschäftige ich mich aber mit der Energiewende und hier insbesondere mit der Stromerzeugung. Dass wir langfristig eine Stromversorgung brauchen, die zu 100% auf erneuerbaren Energien beruht, ist klar. Dies bedeutet, dass die Kohleverstromung schrittweise verringert werden muss. Die Energiewende umfasst aber viel mehr als das: Da die erneuerbaren Energien immer mehr zum dominierenden Element der Stromversorgung werden, brauchen wir verstärkt Speicher und die fossilen Kraftwerke bekommen eine Rolle als Back-up-System. Es wäre natürlich schön, wenn wir heute schon wüssten, welches die richtige Back-up-Strategie ist, aber so weit sind wir noch nicht. Für die Deckung der Residuallast und die Speicherfrage kann ich mir unterschiedlichste Pfade vorstellen. Es wird sicherlich spannend, den Wettbewerb und die Systementwicklung der unterschiedlichen Pfade zu beobachten.
Ich bin mir sicher, dass die Energiewende langfristig nur als europäisches Projekt funktionieren wird. Wenn der Wind mal bei uns nicht weht, ist die Chance groß, dass die Sonne in Spanien scheint oder in Finnland Windenergie eingespeist wird. Gerade in der aktuellen Zeit brauchen wir eine positive Vision für Europa.
Spannend finde ich die mögliche Rolle Skandinaviens. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft eher Windstrom aus Skandinavien und nicht Solarstrom aus Nordafrika importieren. Zum einen ist dort viel Platz für Windkraftanlagen. Gleichzeitig könnten die skandinavischen Wasserkraftspeicher einen Teil des benötigten Flexibilitätsbedarfs liefern. Der Schnee, der im Sommer schmilzt, wird in den Speichern gesammelt und kann dann nach Bedarf die Windenergie ergänzen. Es gibt bereits die ersten gemeinsamen Projekte wie ein Gleichstromkabel durch die Nordsee nach Norwegen. Das ist nicht ganz billig, aber immer noch günstiger als Erdkabel durch Deutschland. Ich glaube, dass es durch einen größeren Austausch und intensivere Zusammenarbeit mehr Synergien gäbe. Das würde ich gerne untersuchen. Mit umfassenden Daten, beispielsweise Einspeisezeitreihen für die Windenergie in ganz Europa, könnte man analysieren, wie weit sich die Einspeisung von erneuerbaren Energien in Europa ausgleicht.
Hauke Hermann ist Senior Researcher im Bereich
Energie & Klimaschutz im Berliner Büro.